Gendermedizin in der Onkologie – ein bislang unterschätztes Thema?
Interview mit Dr. Kathrin Heinrich, LMU Klinikum München
Seit Dr. Kathrin Heinrich im Zusammenhang mit einer Studie zu Darmkrebstherapien zum ersten Mal geschlechtsspezifische Unterschiede bei Krebstherapien untersucht hat, hat sie die Thematik nicht mehr losgelassen. Mittlerweile zählt die geschlechtersensible Onkologie zu den wissenschaftlichen Schwerpunkten der Ärztin in Weiterbildung am LMU Klinikum München. Im Interview erläutert sie, worum es dabei geht und warum geschlechtersensible Medizin nicht nur Medizin für Frauen ist. Beim Deutschen Krebskongress 2024 hält Dr. Heinrich am ersten Kongresstag Vorträge zum Thema "Geschlechtersensible Medizin in der Onkologie" sowie zu Geschlechterunterschieden im Kontext der Immuntherapie in der Plenarsitzung "Gender-Unterschiede bei Krebserkrankungen" und engagiert sich darüber hinaus im Programm für junge Onkolog*innen.
Frau Dr. Heinrich, Sie engagieren sich im Bereich geschlechtersensible Medizin in der Onkologie. Wie kam es dazu, und was machen Sie konkret?
Dr. Kathrin Heinrich: Begonnen hat alles mit einer retrospektiven Analyse einer Studie der FIRE-Studiengruppe, die die Erstlinientherapie bei Patient*innen mit metastasiertem kolorektalem Karzinom untersuchte. In der Auswertung der Studie war aufgefallen, dass es einen Unterschied in Bezug auf die Effektivität der Therapie zwischen Männern und Frauen zu geben scheint. Ich habe dann zusammen mit Prof. Volker Heinemann, LMU München, und Prof. Dominik Modest, Charité – Universitätsmedizin Berlin, die entsprechende Subgruppenanalyse durchgeführt. Im Rahmen der Literaturrecherche habe ich dann gesehen, welche Daten zu diesem Thema bereits existieren. Das hat mich von Anfang an fasziniert. Ich durfte 2019 an dem ersten ESMO-Workshop zum Thema "Gender meets Oncology" teilnehmen – ab diesem Zeitpunkt stand für mich fest, dass ich dieses Thema wissenschaftlich weiterverfolgen möchte. Neben der Begeisterung verspürte ich jedoch auch Entsetzen, wie viele Erkenntnisse über Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Patient*innen bereits existierten, aber keinerlei Einfluss auf unsere tägliche Routine nahmen. Mittlerweile ist die geschlechtersensible Onkologie mein wissenschaftlicher Schwerpunkt. Ich habe im Tumorzentrum München inzwischen eine eigenständige Arbeitsgruppe zu dem Thema gegründet und plane aktuell die Durchführung einer prospektiven klinischen Studie.
Es ist lange bekannt, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede bei Erkrankungen und deren Therapie gibt. Was bedeutet das konkret für die Onkologie?
Geschlechtersensible Onkologie betrifft im Grunde jeden Aspekt der Onkologie. Zum einen gibt es natürlich die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die unter anderem die Entstehung von Erkrankungen oder die Verstoffwechselung von Medikamenten beeinflussen. Ein Beispiel ist das höhere Risiko für schwergradige Nebenwirkungen unter verschiedenen Tumortherapien (sowohl Immun- als auch Chemotherapie) bei Patientinnen, was in verschiedenen retrospektiven Analysen gezeigt wurde. Darüber hinaus kann man aber auch Aspekte wie die Exposition gegenüber Risikofaktoren oder den Lebensstil untersuchen, die über die reine Biologie hinausgehen. Wichtig ist, dass geschlechtersensible Medizin nicht nur Medizin für Frauen ist. Es existieren beispielsweise Daten, dass Männer bestimmte Medikamente schneller verstoffwechseln und damit nicht die notwendigen therapeutischen Spiegel erreichen, um einen optimalen Therapieeffekt zu erzielen.
Stimmt es, dass Krebsmedikamente in der klinischen Entwicklung nur unzureichend an Frauen getestet werden? Gibt es hierzu Regularien, die eventuell geändert werden müssten?
Frauen sind in vielen klinischen Studien unterrepräsentiert. Das ist ein Phänomen, das nicht nur die Onkologie betrifft. Erst 1993 hat die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA den Einschluss von "Women of childbearing potential" in klinische Studien wieder zugelassen. Dennoch werden regelhaft weniger Frauen als Männer in klinische Studien rekrutiert. Das bedeutet, dass Studienergebnisse in einer überwiegend männlichen Population generiert, dann jedoch sowohl auf männliche als auch weibliche Patient*innen gleichermaßen angewendet werden. Entscheidend wäre, einen Einschluss entsprechend der Geschlechterverteilung der jeweiligen Erkrankungen anzustreben. Darüber hinaus müssen die Gründe, warum Frauen weiterhin unterrepräsentiert sind, untersucht werden. Das Thema Studieneinschlüsse ist allerdings nicht nur ein Aspekt der geschlechtersensiblen Onkologie. Es ist notwendig, in Zukunft dafür zu sorgen, dass die Studienpopulation die diverse reale Welt auch im Hinblick auf Alter, Komorbiditäten und Allgemeinzustand abbildet.
Das Thema "Personalisierte Medizin" ist in aller Munde. Welche Bedeutung hat die fortschreitende Entdeckung molekulargenetischer Unterschiede und Biomarker, die für eine erfolgreiche Therapie entscheidend sein können, für die geschlechtersensible Medizin?
Personalisierte Medizin beginnt aus meiner Sicht bereits deutlich vor der Analyse molekulargenetischer Marker bei einem individualisierten Aufklärungsgespräch, in dem wir als Ärzt*innen gemeinsam mit unseren Patient*innen festlegen, welche Behandlungen infrage kommen und wo die Prioritäten unserer Patient*innen liegen. Dann gibt es natürlich die Präzisionsonkologie, die aus der genetischen Untersuchung des Tumorgewebes mögliche Behandlungsoptionen ableitet. Geschlechtersensible Medizin ist ein wichtiger Baustein der personalisierten Medizin, insbesondere, da sie, wie oben erwähnt, sowohl biologische wie auch soziale Aspekte umfasst. Wir können personalisierte Medizin nicht ernsthaft betreiben, wenn wir das Geschlecht unserer Patient*innen außer Acht lassen.
Brauchen wir mehr Forschung, um geschlechtsspezifische Unterschiede in der Onkologie adäquat zu adressieren? Und wie sollten derartige Forschungsprojekte gestaltet werden?
Bislang sind die meisten Daten zum Thema Geschlechterunterschiede in der Onkologie Ergebnisse retrospektiver Analysen. Notwendig sind zum einen prospektive Untersuchungen, um die bislang formulierten/identifizierten Hypothesen zu verifizieren. Auch unabhängig von prospektiven Studien mit einer primär geschlechtersensiblen Fragestellung ist es notwendig, in klinischen Studien auf den balancierten Einschluss von Männern und Frauen zu achten – das gilt auch für die balancierte Geschlechterverteilung in den jeweiligen Studienarmen – und darüber hinaus Subgruppenanalysen bezüglich des Geschlechts präemptiv in das Studiendesign zu integrieren. Selbstverständlich ist es auch weiterhin sinnvoll, die bereits generierten Studienergebnisse hinsichtlich möglicher Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu untersuchen
Und um die Versorgung anzusprechen: Sind genderspezifische Aspekte bereits in onkologischen Leitlinien verankert?
Bislang haben die aktuell zur Verfügung stehenden Erkenntnisse keinen Eingang in die nationalen und internationalen Behandlungsleitlinien gefunden. Daher ist es umso wichtiger, prospektive Daten zu generieren, um die Versorgung unserer Patient*innen in Zukunft evidenzbasiert zu verbessern.
Sitzungen
In der Fortbildungssitzung "Diversity und geschlechtssensible Medizin in der Onkologie" am Mittwoch, dem 21.02.2024, 15 Uhr, hält Dr. Heinrich den Vortrag "Geschlechtersensible Medizin in der Onkologie".
In der Plenarsitzung "Gender-Unterschiede bei Krebserkrankungen" am Mittwoch, dem 21.02.2024, 17.15 Uhr, hält Dr. Heinrich den Vortrag "Genderunterschiede in der Immunologie ‒ spielt das Geschlecht eine Rolle bei der ICI-Therapie (Immun-Checkpoint-Inhibitoren)?"
Darüber hinaus hat sie im Programm für junge Onkolog*innen den Vorsitz der Sitzung "Junge Onkologie: die Zukunft in Klinik und Wissenschaft" am Freitag, dem 23.02.2024, 8 Uhr.