„Wir müssen zeigen, dass wir mit der Robotik bessere Chirurgie betreiben können.“

Ein bärtiger Mann mit Brille blickt lachend in die Kamera.
Professor Orlando Guntinas-Lichius (© Anna Schroll/UKJ

Professor Orlando Guntinas-Lichius leitet die Klinik für HNO-Heilkunde am Universitätsklinikum Jena. In seiner Forschung beschäftigt sich der renommierte Operateur unter anderem mit dem Einsatz roboterassistierter Systeme bei der Entfernung von Tumoren im Kopf-Halsbereich. Beim Deutschen Krebskongress hält er einer der Keynote-Lectures zum Thema „Mensch-Maschine-Interaktion“. Im Interview spricht er über die Chancen und Herausforderungen der Robotik in der Onkochirurgie.

Herr Professor Guntinas-Lichius, wie wird die Robotik bislang in der Onkologie eingesetzt?
Bislang nutzen wir roboterassistierte OP-System als unsere verlängerten Arme, und zwar vor allem in der urologischen Chirurgie, aber auch in anderen chirurgischen Disziplinen wie der HNO-Chirurgie. Häufig kommt es auf eine sehr hohe Schnittpräzision an: Ein oder zwei Millimeter zu viel an entferntem gesundem Gewebe können massive funktionelle Einschränkungen hervorrufen. In meinem Fachgebiet entscheiden diese Millimetergrenzen zum Beispiel darüber, ob der oder die Operierte noch sprechen oder schlucken kann. Der Bedarf an Werkzeugen, mit denen sich der Tumor möglichst vollständig entfernen lässt, ohne gesundes Gewebe zu schädigen, ist groß. Die Systeme, die uns heute zur Verfügung stehen, ermöglichen eine Schnittpräzision von bis zu 0,1 mm.

Welche Möglichkeiten bestehen denn derzeit, die Tumorgrenzen intraoperativ, also während der OP, zu bestimmen?
Standard im OP ist bislang der Einsatz von Weißlicht. Letztlich hängt es von dieser Lichtquelle und der Erfahrung des OP-Teams ab, wie gut sich die Tumorgrenze einschätzen lässt. Zwar überprüfen wir unsere Arbeit mit Hilfe von Schnellschnitten, also von Gewebeproben, die während des Eingriffs entnommen werden. Anhand der Ergebnisse ihrer histopathologischen Auswertung noch während der laufenden OP entscheiden wir, ob noch einmal nachreseziert werden muss oder nicht. Aber diese Methode hat gewisse Einschränkungen. Genau genommen, liefern Schnellschnitte nur Informationen über die entnommenen Gewebeabschnitte. Es besteht also ein Selektions-Bias, zu dem noch diagnostische Ungenauigkeiten hinzukommen. Bei einer Operation im Kopf-Halsbereich fallen außerdem häufig hohe Mengen an Gewebeproben zur Auswertung an. Wenn Schnellschnitte wiederholt werden müssen, weil der Tumor im ersten Anlauf nicht präzise genug entfernt wurde, dann verlängert sich die OP-Dauer und damit die Belastung beim Patienten.

Was bedeutet das für die Weiterentwicklung der Robotik in der Tumorchirurgie?
Zwar können wir durch die roboterassistierte Chirurgie eine hohe Schnittpräzision erzielen. Aber dieser Vorteil lässt sich ohne eine optimierte Visualisierung der Tumorgrenzen gar nicht nutzen. Spektroskopische und Fluoreszenz-basierte Methoden sind in dieser Hinsicht viel genauer und könnten eine vielversprechende Alternative darstellen. Deshalb arbeiten viele Medizingerätehersteller daran, ihre robotischen Systeme mit solchen neuen Verfahren zu kombinieren, die den Tumor besser erkennen können.

Momentan ist der Roboter der verlängerte Arm der Operierenden. Können Sie sich auch vorstellen, dass ein Roboter eines Tages aktiv operiert?
In der Tat, im nächsten Schritt ‒ und der ist noch Vision ‒ geht es um den Übergang von der rein passiven Robotik, wie wir sie heute betreiben, hin zu einer aktiven Robotik, bei der der Roboter selbstständig den Tumor entfernt. Ähnlich wie beim selbstfahrenden Auto wird dabei zur Orientierung ein Navigationssystem benötigt. Die erwähnten spektroskopischen Verfahren ‒ an denen wir forschen ‒ müssen also in der Lage sein, während des Eingriffs ständig die Oberfläche des Operationsgebiets abzutasten und dem Roboter mitteilen, wo sich der Tumor aktuell befindet.

Wie greifbar sind diese Innovationen?
Wir stehen derzeit an der Schwelle zur Erprobung von spektroskopischen Methoden in-vivo. Die Techniken funktionieren und sind sehr genau. Im nächsten Schritt müssen sie von den Behörden auch zur Anwendung zugelassen werden. Darüber hinaus ist bei intraoperativen Verfahren Schnelligkeit gefragt ‒ momentan sind unsere Visualisierungsansätze noch zu langsam. Ferner sollten die nötigen Geräte so miniaturisiert sein, dass sie im OP einsetzbar sind. Als wir vor zehn Jahren mit multispektralen Verfahren angefangen haben, da war der Versuchsaufbau noch so groß wie mein Büro. Immerhin kommen wir heute mit einem Turm aus, den man in den OP-Saal fahren kann. Diese Anpassungen sind eine Frage der Rechenleistung und erscheinen lösbar.

Die generelle Überschrift über diesem Teil des Kongresses lautet Mensch-Maschine-Interaktion? Wie verändert sich die Arbeit der Chirurginnen und Chirurgen durch die aktive Robotik?
Natürlich wird es Veränderungen geben. Möglicherweise ist auch mit Widerständen zu rechnen. Viele juristische Fragen, etwa zur Haftung bei technischem Versagen, sind heute noch nicht geregelt. Auch die Patient*innen selbst schrecken möglicherweise vor einer OP durch einen Roboter zurück. Aber klar ist, dass auch bei guten aktiven Systemen der Operateur oder die Operateurin die Verantwortung trägt. Das ist ähnlich wie im Cockpit eines Flugzeugs: Während des überwiegenden Teils der Flugzeit ist der Autopilot aktiv. Aber in kritischen oder komplexeren Situationen übernimmt der Pilot oder die Pilotin.

Was sind die nächsten Schritte?
Generell gilt: Wir müssen zeigen, dass wir mit der Robotik bessere Chirurgie betreiben können. Das wird das Maß aller Dinge sein. Diese Diskussion haben wir übrigens für viele Anwendungen der passiven Robotik bis heute nicht geklärt. Meine Hypothese lautet: Wenn wir einer verbesserten Robotik eine präzisere Chirurgie hinbekommen, dann steigt die R0-Rate und die Erfolgsquote der OP. Ob das zutrifft, müssen wir natürlich erst klären. Im Übrigen freue ich mich sehr, Ihnen beim DKK 2022 einen detaillierteren Einblick in unsere Arbeiten zur Visualisierung von Tumorgrenzen vorzustellen und mit Ihnen zu diskutieren.

Vielen Dank!

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