Nach der Krebserkrankung zurück ins normale Leben? Mit diesen Problemen kämpfen Betroffene

Interview mit Dr. Nora Tabea Sibert, Deutsche Krebsgesellschaft

Dr. Nora Tabea Sibert
© privat

In der Onkologie dreht sich vieles um Prävention, Diagnose und Behandlung. Was viele nicht wissen: Auch nach der Krebserkrankung können Betroffene unter körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen sowie finanziellen Belastungen leiden. Auf dem Deutschen Krebskongress widmet sich die Sitzung "Vulnerabilität durch Krebs ‒ was kommt nach der Ersterkrankung?" genau dieser Thematik. Die Ärztin und Epidemiologin Dr. Nora Tabea Sibert arbeitet für die Deutsche Krebsgesellschaft und wird auf dem Deutschen Krebskongress (DKK) neuste Daten vorstellen. Im Interview erklärt sie, warum gerade Krebserkrankte von psychosozialen Problemen betroffen sind und warum die Datenlage immer noch immer schwierig ist.

Frau Dr. Sibert, nach der Behandlung sollte für Krebsbetroffene doch eigentlich alles wieder den gewohnten Gang gehen, oder?
Dr. Nora Tabea Sibert: Das wäre natürlich sehr gut und auch das Ziel einer ganzheitlichen, somatischen sowie psychosozialen Behandlung von Krebsbetroffenen. Leider ist die Diagnose und die anschließende Behandlung der meisten Krebserkrankungen mit einer erhöhten Verletzlichkeit – wir sprechen von Vulnerabilität – verbunden. Das hat unterschiedliche Gründe: Zum einen betreffen die meisten Krebserkrankungen – als sogenannte Systemerkrankungen – häufig unterschiedliche Organsysteme und gehen mit einer Vielzahl an körperlichen Einschränkungen einher, wie unter anderem Fatigue. Zum anderen benötigen Betroffene häufig auch psychoonkologische Betreuung, um mit ihrer Krebserkrankung besser umgehen zu können. Viele können während und auch nach der Krebsbehandlung erst einmal und möglicherweise auch langfristig nicht normal weiterarbeiten. Auch Themen, an die man jetzt nicht sofort bei einer Krebsdiagnose denkt, wie Sexualität und Familienplanung, sind häufig relevant und müssen mitbedacht werden. Und vor allem: Die Behandlung von Krebs kostet Geld, und nicht alles wird von den Krankenkassen übernommen, etwa Zuzahlungen bei Medikation oder benötigte Hilfe im Haushalt. Das alles macht vor allem Betroffene von Krebs, als eine komplexe und häufig langwierige Krankheit, besonders vulnerabel auch für finanzielle Belastungen.

Gibt es genügend Studien zu dem Thema?
Die kurze Antwort lautet: Nein, es gibt eindeutig zu wenig Daten aus Deutschland dazu. Wir wissen aus großen, sogenannten "ökologischen" Studien von z. B. dem Robert Koch-Institut oder dem Deutschen Krebsforschungszentrum, dass die Krebssterblichkeit in Regionen, in denen besonders viele sozioökonomisch eher benachteiligte Menschen leben, sehr viel höher ist als in Regionen mit sozioökonomisch besser gestellten Menschen. Das sind aber Studien, die nicht auf das Risiko auf der Ebene der Betroffenen, sondern von einer Makroperspektive auf das Problem schauen. Aus qualitativen Studien, die meistens auf Interviews mit Betroffenen aufbauen, wissen wir, dass vor allem auch die finanziellen Mehrbelastungen für Krebsbetroffene besonders herausfordernd und beschwerlich sind. Das betrifft z. B. Kosten für Zuzahlung bei Medikationen, lange Wartezeiten bei der Rückerstattung von Gesundheitskosten und Verdienstausfälle. Es fehlen aber bis jetzt quantitative Daten aus Betroffenensicht und vor allem auch aus der onkologischen Routineversorgung. In der Deutschen Krebsgesellschaft haben wir als Forschungsgruppe Zugang zu großen Datensätzen aus der Krebsversorgung aus ganz Deutschland – das ist sehr besonders. Auf dem DKK werden wir daher für Darmkrebspatient*innen – aufbauend auf der Studie "Ergebnisqualität bei Darmkrebs: Identifikation von Unterschieden und Maßnahmen zur flächendeckenden Qualitätsentwicklung" – auch neue Daten präsentieren, die die besondere finanzielle Belastung durch die Krebserkrankung aufzeigen.

Warum geraten Krebsbetroffene nach der Behandlung überhaupt in finanzielle Probleme?
Das hat vielschichtige Ursachen, die nicht auf alle Krebspatient*innen gleichermaßen zutreffen. Was wir aber wissen ist, dass für die Entstehung von finanziellen Schwierigkeiten vor allem die Dauer der meisten Krebserkrankungen, die Kosten der Behandlung und die Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit sehr relevant sind: Viele Krebsarten müssen lange behandelt werden – z. B. durch Strahlen- oder eine Systemtherapie (Chemo) – und die Betroffenen können häufig nur teilweise oder gar nicht während der Behandlung arbeiten. So ist der Rückkehr in den Beruf (return to work) gerade für Krebsbetroffene besonders herausfordernd und zum Teil auch durch Nebenwirkungen der Behandlungen oder Langzeitfolgen der Erkrankung gar nicht mehr möglich. Daraus ergeben sich erhöhte finanzielle Belastungen, die nur zum Teil aufgefangen werden durch Lohnfortzahlungen, Krankengeld oder Frührente. Dazu kommen Kosten, die durch die Krankheit und die Behandlung entstehen – beispielsweise die Fahrten zur onkologischen Praxis, Verbandsmaterial und Medikationskosten. Nicht alles wird von den Krankenkassen erstattet. Auch Patient*innen, die zum Zeitpunkt der Diagnose nicht mehr erwerbstätig sind, können hier erhöhte Kosten erwarten. Leider werden die Betroffenen häufig nicht auf diese zu erwartenden Mehrkosten vorbereitet.

Welche Patientengruppe ist davon besonders betroffen?
Das ist ganz unterschiedlich und lässt sich nicht so pauschal beantworten. In der Deutschen Krebsgesellschaft haben wir uns die Fragestellung zunächst für Darmkrebspatient*innen en detail angeschaut. Unsere Ergebnisse werden wir auf dem DKK vorstellen. Vielleicht kann ich aber schon einmal vorab verraten: In unserem Studienkollektiv haben vor allem jüngere Patient*innen finanzielle Schwierigkeiten durch die Krebserkrankung 12 Monate nach ihrer Diagnose angegeben. Das kann die unterschiedlichsten Gründe haben. Aber die zum Teil deutlich aggressiveren Tumoren und der Wegfall der Erwerbstätigkeit spielen bei dieser jüngeren Patient*innengruppe gewiss eine besondere Rolle. Wir freuen uns sehr, die Ergebnisse auf dem DKK vorzustellen und gemeinsam zu diskutieren.

Was müsste sich ändern, damit Krebsbetroffene besser dastehen?
Allem voran müssten die Krebsbetroffenen frühzeitig über das erhöhte Risiko und die finanzielle Mehrbelastung ihrer Erkrankung informiert werden. Patient*innen, die in einem zertifizierten Krebszentrum behandelt werden, steht beispielsweise eine Beratung des Sozialdienstes zu – das ist immer Teil der Kernkompetenzen, die ein von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifiziertes Krebszentrum erfüllen muss. Auch gibt es Krebsberatungsstellen, an die sich Betroffene wenden können. Auf dem DKK gibt es übrigens auch eine eigene Session zu dem Forschungsprojekt "Cancer rehabilitation support by cancer counselling centres" (CARES). In CARES, an dem auch die Deutsche Krebsgesellschaft beteiligt ist, geht es um ein spezielles, intensiviertes Beratungsangebot in Krebsberatungsstellen zur Unterstützung der Rückkehr in den Beruf. Hier werden also schon Beratungsangebote bereitgestellt. Trotzdem müssten diese weiter ausgebaut werden. Auch sollte es für die Behandelnden einfacher sein, Krebsbetroffene mit einem erhöhten Risiko für eine finanzielle Belastung frühzeitig zu identifizieren und somit besser beraten zu können. Für die Psychoonkologie gibt es so ein Screening bereits. In Krebszentren wird das "Disstress-Thermometer" eingesetzt, das Patient*innen auf ihren psychoonkologischen Bedarf hin screent. Solch niederschwellige Instrumente fehlen derzeit für die Identifikation von Krebsbetroffenen mit erhöhtem Risiko für eine finanzielle Belastung. Wir haben für Darmkrebspatient*innen einen Vorschlag für solch ein niederschwelliges Screening-Instrument ausgearbeitet und stellen dieses auch auf dem Kongress vor – damit es hoffentlich in Zukunft einfacher ist, die sozialdienstliche Beratung bedarfsgenauer zu gestalten.

Schenkt die Gesundheitspolitik und die medizinische Versorgung dem Thema Cancer Survivors genügend Aufmerksamkeit?
Um vielleicht erst einmal aus der Sicht der Einzelbetroffenen zu antworten: Für den*die einzelne*n Patient*in gibt es neben der Routineversorgung auch Angebote wie den Härtefonds der Deutschen Krebshilfe, um zumindest einen Teil der finanziellen Mehrkosten abzufangen. Hier müssen Betroffene aber – neben all den anderen organisatorischen Dingen, die sie wegen ihrer Krebserkrankung regeln müssen – selbst aktiv werden. Hier gibt es sicherlich noch viel Optimierungspotenzial, damit Betroffene nicht auf die selbst organisierte finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Und nun aus einer strukturelleren Perspektive: In der letzten Zeit hat sich schon einiges getan in Hinblick auf die Sichtbarkeit des Themas Cancer Survivor, etwa durch Schwerpunktsetzungen des Nationalen Krebsplans. Darin wurde im Jahr 2018 die Arbeitsgruppe "Langzeitüberleben nach Krebs" gegründet und somit unterstrichen, wie wichtig das Thema auch für die Gesundheitspolitik ist. Trotzdem müssen wir – vor allem aus Forschendenperspektive – Anfang 2024 immer noch sagen: Uns fehlen gute Längsschnittdaten für Deutschland, die uns einen besseren Einblick in Ursachen, die Entstehung, Präventionsmöglichkeiten und sogenannte "coping"-Strategien für Folgen von Krebserkrankungen und -behandlungen bieten. Hier wäre die Unterstützung durch die Gesundheits- und auch Forschungspolitik auf jeden Fall wünschenswert.

Sitzung

In der Sitzung "Vulnerabilität durch Krebs ‒ was kommt nach der Ersterkrankung?" am Donnerstag, 22.02.2024, 09:30 Uhr, hält Dr. Nora Tabea Sibert den Vortrag "Armut durch Krebs in Deutschland? Datenauswertungen aus zertifizierten Darmkrebszentren".